Experteninterview – "Flexibilität ist eines der Schlüsselelemente des zukünftigen Energiesystems"

Experteninterview – 17. August 2021

Interview mit Dr. Michael Weinhold, Siemens Smart Infrastructure, über die Bedeutung von Smart Grids

Die Energiewende ist ohne intelligente Lösungen für die Übertragungs- und Verteilnetze nicht zu schaffen. Wie ist der technische Status quo von Smart Grids? Welche Rolle spielt das Grid Egde? Und warum müssen die Ingenieure, wenn es um den Ausbau der Erneuerbaren geht, mehr mit den Menschen reden? Darüber spricht Dr. Michael Weinhold in unserem Interview. Er ist Head of Technology & Innovation Smart Infrastructure bei Siemens.

Michael Weinhold, Leiter Technologie und Innovation bei Siemens Smart Infrastructure

Herr Weinhold, Smart Grids sind als Schlagwort in aller Munde. Wie definieren Sie Smart Grids?

Aus einer übergeordneten Perspektive im Hinblick auf ihre Aufgabe sind Smart Grids Stromnetze, die eine intelligente Integration aller Beteiligten und Nutzer, wie Erzeuger, Verbraucher und Prosumer ermöglichen, um ein nachhaltiges, wirtschaftliches und sicheres Stromversorgungssystem zu schaffen. Aus technologischer Sicht handelt es sich um ein Stromversorgungsnetz, das digitale Kommunikationstechnologien nutzt, um Vorhersagen und Schwankungen der Energieversorgung oder des Verbrauchs zu erkennen und darauf zu reagieren.

Wenn ich Smart Grids mit den bislang üblichen Stromnetzen vergleiche, was sind die Unterschiede?

Als ich in den 80er Jahren studiert habe, hatten wir im Wesentlichen noch eine konventionelle Stromerzeugung. Bei den erneuerbaren Energien ging es vor allem um Wasserkraft, Solarenergie wurde mehr oder weniger nur für Satelliten oder sehr spezielle Anwendungen eingesetzt. Die Netze wurden nach Bedarf gebaut, um alle Lasten zu decken, der private Verbraucher war überall mehr oder weniger passiv. Das hat sich ganz dramatisch geändert. Jetzt integrieren wir eine riesige Menge an erneuerbaren Energien auf allen Spannungsebenen von sehr kleinen Photovoltaikanlagen auf Dächern bis hin zu riesigen Offshore-Windparks. Deren Strom muss integriert und übertragen werden, um ihn nutzen zu können. Auf der Empfängerseite gibt es immer mehr Verbraucher, die an das Stromnetz angeschlossen werden, zum Beispiel Elektroautos.

Schauen wir uns nun die Akteure vor Ort an. Viele sind, wie ich, einfache Verbraucher, die vielleicht eine Solaranlage auf dem Dach oder ein Elektroauto haben. Diese können ihren eigenen Strom produzieren, ihn nutzen, speichern oder ins Netz einspeisen. Damit agieren sie am sogenannten Grid Edge, für das Siemens verschiedene Software-Lösungen anbietet. Was genau versteht man darunter?

Das Grid Edge ist die Schnittstelle zwischen dem Stromnetz und den angeschlossenen Nutzern. Die Nutzung könnte, wie Sie beschrieben haben, die Einspeisung von Strom einer PV-Anlage sein, das Aufladen eines E-Autos, der Betrieb einer Wärmepumpe oder der HLK-Anlage eines ganzen Gebäudes. Das Netz wird dadurch immer interaktiver. Einen Begriff, den wir an dieser Stelle erwähnen sollten, ist Flexibilität, denn sie ist eines der Schlüsselelemente unseres zukünftigen Systems. Flexibilität ist nötig, um den volatil erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien einspeisen oder beispielsweise in Form von Wärme speichern zu können.

In Deutschland haben wir ein Problem mit den Übertragungsnetzen. Wir sind nicht in der Lage sind, den erneuerbaren Strom aus dem windreichen Norden in den industriellen Süden zu leiten. Ich denke, wenn man Europa als Ganzes betrachtet, dann wäre die nächste Stufe ein Smart Grid. Wie nah sind wir dran, und was sind die größten Hürden auf dem Weg dorthin?

Sie sprechend die Netzengpässe in Deutschland an. Dabei muss auch die zünftige Entwicklung von Angebot und Nachfrage berücksichtigt werden. Hier schauen wir auf Systeme zur Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) die von Norden nach Süden verlaufen, um die riesigen Mengen erneuerbarer Energien aus dem Norden in die Regionen mit hoher Last im Süden Deutschlands zu bringen.

Ein sehr spannendes Projekt ist das so genannte Ultranet-Projekt im Südwesten, bei dem bestehende Übertragungsleitungen in HGÜ-Leitungen umgewandelt werden. Dabei geht es um eine leistungselektronische Anwendung, bei der Strom an einem Punkt im Wechselspannungsnetz entnommen wird, in diesem Fall in Norddeutschland, in Form von Gleichstrom nach Süddeutschland geleitet und dort wieder in das Wechselstromnetz eingespeist wird.

Für mich klingt das aus technischer Sicht relativ leicht umsetzbar verglichen mit dem gesamten Umfang eines intelligenten Netzes. Dennoch stehen wir dabei immer noch vor großen Herausforderungen, vor allem im Hinblick auf die Bürger, die keine riesigen Stromleitungen vor ihrer Haustür haben wollen.

Hier gibt es zwei Aspekte. Der erste ist, dass HGÜ-Systeme und die Art und Weise, wie die Anschlüsse dieser Systeme funktionieren, Teil eines intelligenten Netzes sind. In den Netzentwicklungsplänen für Europa kann man sehen, dass es bereits mehrere HGÜ-Leitungen gibt und weitere im Bau oder geplant sind. Die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung ist also in Europa und in anderen Teilen der Welt bereits etabliert und gehört zu den intelligenten Netztechnologien, die uns für den Ausbau der erneuerbaren Energien zur Verfügung stehen, dazu.

Der andere Aspekt, den Sie erwähnten und den wir meiner Meinung nach ansprechen sollten, sind wir als Menschen mit unseren Wünschen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Wenn es um unsere zukünftige Energieinfrastruktur geht, spielen wir eine wichtige Rolle. Wir entscheiden, was umgesetzt werden soll und was nicht. Und deshalb ist es wichtig, den Bürgern verständlich zu machen, welche es Optionen es gibt, um eine nachhaltige Infrastruktur zu schaffen, wenn wir mehr Windkraft und Solarenergie einsetzen.

Es werden große Anstrengungen unternommen, um eine europaweite Ladeinfrastruktur aufzubauen. Wie eng ist das mit den Bemühungen verbunden, auch ein intelligentes Stromnetz in ganz Europa zu schaffen? Geschieht das parallel zueinander?

Das geschieht parallel und muss natürlich koordiniert werden, denn wo liegen die großen Herausforderungen in unseren Netzen? Je mehr man sich der Niederspannungsebene nähert, desto größer werden in der Regel die Herausforderungen, denn das Niederspannungsnetz war früher ein sehr passiver Teil des Stromnetzes. Früher konnte man das Nutzungsverhalten sehr gut vorhersagen und die Netze so bauen, wie sie benötigt wurden, z. B. in Bezug auf die Kapazität. Aber wie schon gesagt, müssen vor allem das Verteilnetz und das Niederspannungsnetz heutzutage ziemlich flexibel sein. Wir sprachen über Ladeinfrastruktur, über Heizen, Kühlen, den Anschluss von PV-Anlagen auf dem Dach. Ein Großteil, ich glaube 90%, der erneuerbaren Energien sind in Europa an das Niederspannungsnetz angeschlossen. Das ist also eine große Herausforderung und muss Hand in Hand gehen.

Wenn wir von einem intelligenten Netz sprechen, gehört dazu auch die Integration der Ladeinfrastruktur. Vor allem beim Schnellladen ist der Stromfluss beträchtlich. Schnellladesäulen sind aber notwendig, um die Akzeptanz und die Verbreitung von E-Mobilität zu fördern. Man muss sich das mal vorstellen, ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland hat vielleicht einen Stromverbrauch von 10 kWh am Tag. Nun schließt man ein 11 kW-Ladegerät an und mehrere Nachbarn tun das Gleiche, das ist schon eine Herausforderung für das Verteilnetz. Darum geht es heute in vielen Projekten um Technologien mit denen man Ladestationen oder Wärmepumpen im Niederspannungsnetz effizient steuern kann. Außerdem gibt es da noch ein Projekt, bei dem wir künstliche Intelligenz einsetzen, um eine Unterstation im Verteilnetz zu steuern.

Das klingt spannend, wie funktionert das?

Sie haben eine dynamische Zustandsschätzung (state estimator), die in der Cloud trainiert wird. Die Parameter werden dann auf das neuronale Netz in der Niederspannungsschaltanlage heruntergeladen. Das neuronale Netz steuert die nachgelagerte Ladeinfrastruktur so, dass es zu keiner Überschreitung der Spannungs- oder Stromwerte kommt. Weichen die tatsächlichen Messwerte zu stark von den Werten dieses Zustandsschätzers ab, wird das neuronale Netz erneut trainiert. Dies könnte eine sehr kostengünstige und gleichzeitig sehr effektive Lösung für intelligente Niederspannungsnetze sein. Deshalb arbeiten wir mit Kunden wie Stromnetze Hamburg an einem Prototyp.

Der Stromverbrauch wird also durch das Laden von Elektroautos erheblich steigen. Und wir brauchen nur eine Intelligenz, um zu verhindern, dass wir alle gleichzeitig auf den Schalter drücken?

Ja, das ist vielleicht ein bisschen vereinfacht, weil ich von Durchschnittswerten gesprochen habe. Und natürlich lässt man sein 11 kW-Ladegerät nicht die ganze Zeit über laufen. Aber im Grunde haben Sie recht, denn wir bauen die Ladeinfrastruktur in unseren Städten erheblich aus, in den Parkgaragen, entlang von Straßen usw. Wir werden sehen müssen, wie wir diese Stromnachfrage effektiv decken können. Dazu gehört natürlich auch das intelligente Laden. Eine Interaktion des Ladegeräts mit einem Smart Grid könnte das Netz stärken.

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview auf Englisch können Sie hier anhören.

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